1Am 22.08.2022 hat der APD Ukraine eine Online-Veranstaltung zum Thema „Aktuelle Herausforderungen in der ukrainischen Agrarwirtschaft“ durchgeführt. Zu den über 80 Teilnehmenden zählten Verantwortliche der Agrarpolitik, Privatwirtschaft, Forschung und kommunalen Selbstverwaltungsorgane sowie ukrainische und internationale Expertinnen und Experten. Ziel der Veranstaltung war, sich vor dem Hintergrund der andauernden Kampfhandlungen auszutauschen über den voraussichtlichen Verlauf der Herbsternte (vor allem der Ölpflanzenernte), alternative Transportwege, Möglichkeiten der Lagerung und des Absatzes der neu eingebrachten Ernte sowie Perspektiven für die Herbstsaat.

In seinem Grußwort wies Denys Bashlyk, stellv. Minister für digitale Entwicklung, digitale Transformationen und Digitalisierung im Ministerium für Agrarpolitik und Ernährung der Ukraine, auf die Fortschritte hin, die die Ukraine bei der Aufrechterhaltung der Produktion und der Wiederherstellung der Logistik – besondere Engpässe unter Kriegsbedingungen – erzielt hat. „Ukrainische Agrarproduzenten sind unsere wahren Verteidiger und Helden. Dank ihrer unermüdlichen Arbeit haben wir mit Stand heute bereits 18 Mio. Tonnen Ernte eingebracht. Zudem ist es gelungen, 1,9 Mio. Tonnen Agrarprodukte zu exportieren“, hob er hervor. Problematisch bliebe jedoch der Mangel an Lagerkapazitäten für Agrarprodukte. Herr Bashlyk würdigte die Hilfe der internationalen Partner, vor allem Deutschlands, bei der Lösung der genannten Probleme.

Dr. Ophelia Nick, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, solidarisierte sich mit der Ukraine und betonte die Bedeutung der weiteren Kooperation im Rahmen des agrarpolitischen Dialogs. „Heute sind wir zusammengekommen, um gemeinsam Lösungen zu finden, die der Ukraine angesichts dieser schrecklichen Ereignisse helfen könnten“, verdeutlichte Frau Nick. Sie stellte den besonderen Wert präziser Prognosen für die Saat und die zu erwartende Ernte heraus und wies insbesondere auf den Beitrag des deutschen Unternehmens BayWa/Vista hin, welches dem ukrainischen Agrarministerium ein Ernteprognosetool zur Verfügung gestellt hat. „Diese Daten sind für die ukrainische Landwirtschaft enorm wichtig. Mit einer präzisen Ertragsprognose lässt sich auch die Lagerung besser planen. So kann sichergestellt werden, dass geerntetes Getreide nicht verdirbt und zur Ernährungssicherheit beiträgt.“ Das Ernteprognosetool reihe sich in die vielfältigen deutschen Unterstützungsmaßnahmen der ukrainischen Agrarwirtschaft ein, so Nick.

Den fachlichen Teil der Veranstaltung eröffnete Pavlo Koval, Generaldirektor der Ukrainischen Agrarkonföderation, mit der Präsentation „Aktueller Stand und Ernteerwartungen des ukrainischen Agrarbusiness sowie Perspektiven für die Herbstsaat im Überblick“. Er stellte unter anderem Prognosen für die Saat von Winterkulturen für die Ernte 2023 vor und konstatierte, dass schätzungsweise ca. 50% der landwirtschaftlichen Betriebe Schwierigkeiten haben, die Herbstsaatkampagne mit den notwendigen Produktionsmitteln zu versorgen. Grund sei, dass die Produktion des vergangenen Jahres wegen eingeschränkter Exportmöglichkeiten nicht in vollem Umfang abgesetzt werden konnte. Erschwerend kommen ein beschränkter Zugang zu Krediten, der Preisrückgang für Getreide- und Ölpflanzen auf dem Binnenmarkt, Preissteigerungen für Produktionsmittel etc. hinzu. „Vor diesem Hintergrund kann mit der Reduzierung der Saatflächen unter Winterkulturen in der Ukraine von 25 bis 30% im Vergleich mit den Durchschnittswerten der vergangenen Jahre gerechnet werden“, meinte der Experte.

Prof. Dr. Martin Banse, Institut für Marktanalyse, Johann Heinrich von Thünen-Institut, ging auf die globale Situation der Welternährung vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine ein. Er stellte fest, dass die Zahl der unterernährten Menschen in den vergangenen acht Jahren weltweit wieder gestiegen ist, wodurch frühere positive Tendenzen nivelliert werden. Diese Entwicklung dürfte sich durch steigende Lebensmittelpreise noch beschleunigen. Prof. Banse sprach das Thema der eventuellen künftigen Preisentwicklung an und wies darauf hin, dass diesbezügliche Einschätzungen mit sehr großen Unsicherheiten verbunden sind. Historisch gesehen seien Hochpreisphasen jedoch kein neues Phänomen. Daher seien selbst bei einer Besserung der gegenwärtigen Situation Preissteigerungen für Agrarprodukte und Energieträger zu erwarten. „Hunger und Unterernährung ist kein Problem des Vorhandenseins, sondern ein Problem der Verteilung von Nahrungsmitteln“, fasste er zusammen. Bei den vom Thünen-Institut unter Berücksichtigung der aktuellen Lage formulierten Empfehlungen wird besonderer Wert auf offene Märkte gelegt, was nach Auffassung von Prof. Banse für Entwicklungsländer mit hoher Importabhängigkeit besonders wichtig ist. Er empfahl außerdem, diese Abhängigkeit abzubauen und die nachhaltige Entwicklung der Agrarwirtschaft voranzutreiben.

An der anschließenden Podiumsdiskussion beteiligten sich Vertreterinnen und Vertreter des Ministeriums, der Agrarwirtschaft und von wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen sowie internationale Expertinnen und Experten.

Igor Vishtak, Direktor der Abteilung für agrarindustrielle Entwicklung des Ministeriums für Agrarpolitik und Ernährung der Ukraine (MAPE), berichtete über Förderprogramme, die sein Ministerium gegenwärtig für Agrarproduzenten anbietet. „Zurzeit werden vom Ministerium Kreditprogramme, z.B. das zinsbegünstigte Programm ‚5-7-9‘ und das Programm zur Finanzierung von Portfoliokrediten, weitergeführt. Darüber hinaus wurde ein neuer Förderschwerpunkt ‚Bau von Treibhauswirtschaften und Förderung des Gartenbaus‘ in Gang gesetzt, um die Bevölkerung in ländlichen Räumen zu beschäftigen, die Wirtschaft unter Kriegsbedingungen anzukurbeln und die Ernährungssicherheit zu gewährleisten.“ hob Herr Vishtak hervor.

Oleg Nivievskyi, Kyiv School of Economics (KSE), sprach über die größten Risiken, denen Agrarproduzenten gegenwärtig ausgesetzt sind, und Ansätze zu ihrer Einschätzung. Die KSE führt regelmäßig ein Monitoring der Ernährungssicherheit in der Ukraine und weltweit durch. Dieses ergab: „Die Ernährungssicherheit in der Ukraine ist um 50% gefallen. Dabei wurden auch die Preissteigerung für Grundlebensmittel und die Einkommensentwicklung im Land berücksichtigt“. Herr Nivievskyj geht davon aus, dass der Binnenmarkt für Agrarproduzenten und die Nahrungsindustrie stark schrumpfen werden. Deshalb ist sorgfältig zu prüfen, was für wen produziert werden soll. Es ist sinnvoll, dies vor dem Hintergrund der Annäherung an den EU-Binnenmarkt zu beurteilen: „Es ist ein umfassender und aufnahmestarker Markt, auf dem Produkte mit hoher Mehrwertschöpfung erfolgreich verkauft werden können. Dafür sind jedoch Investitionen erforderlich, die in der Kriegszeit besonders schwer zu gewinnen sind. Die neue Agrarpolitik sollte diesen Herausforderungen Rechnung tragen“.

Kay Winkelmann, Experte für Kampfmittelräumung (APD Fachdialog Boden), schätzte die Kosten für die Räumungsarbeiten und die Rückkehr zur produktiven Bewirtschaftung der aktuell belasteten ukrainischen Flächen auf 2 bis 4 Mrd. Euro. Er sprach sich dafür aus, die Belastung von bestimmten Flächen und Regionen laufend zu dokumentieren: „Diese Daten sollten kontinuierlich und ständig gesammelt werden. Damit wird die Grundlage für Entscheidungen geschaffen, wo bereits heute schwere Technik eingesetzt werden könnte und wo eine umfassende Minenräumung noch durchzuführen ist“.

Die Funktionen des Tools zur Einschätzung der Bestandsentwicklung und für Ernteprognosen, welches die BayWa/Vista dem ukrainischen Ministerium für Agrarpolitik und Ernährung unentgeltlich zur Verfügung gestellt hat, präsentierte Dr. Heike Bach, Expertin der BayWa/Vista. Weltbank und Polytechnische Universität Kyiv setzen das Tool derzeit ein, um entsprechende Prognosen zu Saatflächen und Ertrag vorzubereiten. An der Prognose zu Sommerkulturen wird gearbeitet, Ergebnisse zu Winterweizen und Rapssaaten können hier eingesehen werden:https://documents1.worldbank.org/

Über die Bedeutung einer zuverlässigen Statistik und evidenzbasierter Prognosen für entsprechende agrarpolitische Entscheidungen sprach Mykola Pugachov, stellv. Leiter des Instituts für Agrarökonomie. „Es ist extrem schwierig, stichhaltige Daten in Kriegszeiten einzuholen, denn die Situation kann sich sehr schnell ändern. Doch man kann sich auf satellitengestützte Informationen verlassen, die zeitnaher und präziser sind.“ sagte er. Herr Pugachov berichtete zudem über Aktivitäten seines Instituts zur Entwicklung eines Vorgehens zur Bewertung und Dokumentierung von Verlusten, die von Landbetrieben getragen werden, was besonders schwer ins Gewicht fällt, wenn diese Betriebe Schadenerstattungen in Anspruch nehmen wollen.

Pavlo Koval, Generaldirektor der Ukrainischen Agrarkonföderation, ging auf die Erwartungen der Agrarwirtschaft unter besonderer Berücksichtigung der derzeitigen Situation ein. „Verfügbare Ressourcen von Landbetrieben, insbesondere von Klein- und mittelständischen Unternehmen, sind begrenzt, denn sie haben bis jetzt keinen Erlös aus der Ernte des vergangenen Jahres erhalten. Dabei haben viele Faktoren gleichzeitig zusammengewirkt, daher sei es sehr wichtig, für den Zugang zu Finanz- und Kreditressourcen zu sorgen“, so der Experte.

Zusammenfassend verwies Frank Müller, Agrarattaché der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Kiew, auf die Aktualität der angesprochenen Themen und auf den großen Einfluss der aktuellen Situation auf die weitere Entwicklung des Agrarsektors. Er betonte, wie wichtig es ist, dabei zu unterstützen, dass Exporte wiederhergestellt, die Ernte gesichert und Diskussionsveranstaltungen zum Meinungsaustausch durchgeführt werden. „Wir werden uns weiterhin darum bemühen, nachfrageorientierte Unterstützung in den wichtigen Bereichen nach Möglichkeit zu bieten“, verdeutlichte Herr Müller und gratulierte den Ukrainerinnen und Ukrainern zum kommenden Tag der Unabhängigkeit.

Abschließend lud Maria Yaroshko, Leiterin des APD Ukraine, die Teilnehmenden ein, die nächsten Maßnahmen des Projekts zu verfolgen und sich in weitere Diskussionen einzubringen: „Wir sind bestrebt, Sie zu informieren und einen angemessenen agrarpolitischen Dialog selbst in diesen schwierigen Zeiten aufrechtzuerhalten. Darin sehen wir unsere Aufgabe“.

Quelle: APD; Foto: APD; Datum: 22.08.2022

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